Neujahrsbrief 2022

Befrage und erhöre dich selbst

Der Schnee fällt lautlos. Er knirscht bei jedem Schritt unter den Füssen. Ein Geräusch, das beruhigend wirkt, denn das war so und wird immer so sein; solange Schnee fällt, wohl gemerkt.
Je tiefer es in den Wald geht, desto leiser wird das vielfältige Keuchen und Brummen der Stadt. Die Schneeschicht, die sich ringsum zusehends niederlegt, wirkt wie eine Dämpfungskonstante für übergewöhnliche Fühlfähigkeit und garantiert zunehmende Stille. Ich folge dem Weg, gelange an eine Lichtung. Der Blick ist nun frei auf die glitzernden und funkelnden Lichter der betriebsamen Stadt, die einen turmhohen Stolz präsentiert; eine Metropole, wohl gemerkt, die ihre Arbeitstiere pausenlos antreibt, diese in Abstellkammerbeziehungen leben lässt und ihnen second life batteries in Aussicht stellt.

Ich setze mich auf eine Bank an der Wegbiegung und ruhe mich aus. Ein Sitzriese kommt schunkelig daher geschlendert und gesellt sich zu mir; wir kommen ins Gespräch. «Der aktuelle spill-over-event lässt sich mit den kräftigsten Hieben auf die Boxbirne nicht wegschlagen», meint er und rollt bedeutsam seinen Überaugenwulst. Ich stimme ihm zu und frage, wie es denn möglich sei, sich im reichweitestarken Boulevardkosmos zu orientieren. Es tummeln sich dort Salonzyniker und Seelenbetrüger. Die einen überwallen uns mit ihrer Suada und laden ins Impfdörfli ein, die anderen brillieren mit Aussenseiterstolz. Insgesamt ist die Rhetorik martialisch bis gewaltvoll. Während die einen ihre Klappstacheln ausfahren, mokant und stereotaktisch ihre Jahrmarktshoheit worthülsen, trumpfen die anderen auf mit ihrem Stosstrupp und geben moros Belangvolles von sich. Wen man auch anhört, der Selbsterhöhungseifer ist beidseitig. Wer bei den einen oder anderen leise Bedenken anzumerken wagt, kokelt. Das Resultat dieser unheilvollen Flut von Wichtigkeiten und Altherrenwitzen lautet: übergenügend informiert. Nimmt man den Puls – hüben wie drüben –, wird die sardonische Ader fühlbar. Im Anblick dieser Trauermückenlarven könnte man zipfelsinnig werden. Ich seufze lautstark.

«Schau», sagt der Sitzriese sanftmütig, «am Erzählrad dreht Definibles, das die Ampelpolitik mal rot, mal grün aufleuchten lässt. Wir müssen uns auf anderes besinnen als Tierretterkommentare.» Bestimmt hat er recht, denke ich bei mir. Friedfertig fährt er fort: «Wenn du die Wahrheit hervorbringst, die in deiner Tiefe ruht, wird sie dich retten. Wenn du sie nicht hervorbringst, wird sie dich zerstören.»

Ein Schauder durchzuckt mich ob diesem ehrwürdigen Edeltonboot. Ich trete kurz weg. Zurück auf der Bank neben meinem Gesprächspartner auf Augenhöhe möchte ich wissen: «Wie ist dies zu bewerkstelligen?» Der Sitzriese bedient sich seiner Engelszunge und sagt: «Die Wahrheit ergründen, bedeutet, weder lahmhintrig noch hasenherzig zu sein, bar jeder egoiden Befindlichkeit. Darum braucht es eine enhanced self-interrogation. Es geht ums Erhören, nicht ums Erhöhen, wohl gemerkt. Wer Ohren hat, der höre.» Erkenntnisreich verabschiede ich mich von meinem Gegenüber. Ich breche auf ins heilvolle Bauerwartungsland, unter mir das vertrauenerweckende Knirschen. Am Ziel angelangt, giesse ich mit Fürwitz die Terrassenmischung Tröpfchen für Tröpfchen aus dem Saucenpfau. Amen!


 


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