Neujahrsbrief 2020

Eine Fürstin reist bei Tagesneige

Der Himmel färbt die Wolken, die Wattebauschen oder Schaumflocken ähneln, in der Abenddämmerung rosarot. Eine graublaue Decke zieht am Horizont herbei und kündigt Schnee oder Graupel an. Zwischen Himmel und Erde bildet sich ein heller Streifen, der den Blick in eine ferne Zeitspanne preisgibt. Es handelt sich hierbei um das Alleinstellungsmerkmal dieser winterlichen Stimmung, wenn der Tag langsam zur Neige geht. Die von Kettenmigration betroffene Influencerin Sara Dauer-Brenner, die ihr summa cum laude am Schreibtisch im Fach Kollisionsgeschichte verübt hat, entrinnt der sozialen Beschleunigung; sie fährt mit einem Querdurchslandticket und ein paar Habseligkeiten zu den Österreichenden. Seit die Gletschertaschen immer grösser werden und ihr der Schreck vom Greta Thunbergschen «How dare you!» noch in den Knochen steckt, reist sie mit der Bahn. Sie weicht damit vor allem dem Flug-Shaming aus: Es hat zu viele laute Buhrufe zur Folge, das kann sie sich in ihrem Beruf nicht leisten.

Im Speisewagen setzt sie sich in die Interior Illusion Lounge, bestellt die Testsiegerbouillon und gönnt sich einen Industriedöner. Kakanisch klärt sie der Ober ungefragt auf: «Gnäd’ge Frau, unser Angebot ist strahlendosenreduziert.» Sie nimmt es schweigend zur Kenntnis. Dabei hält sie die globale Denuklearisierung für einen Abschreckungsleerlauf. Verständnisinnig fragt sie den aufgeknöpften Speisewagenangestellten: «Sagen Sie, Herr Ober, wie steht es bei Ihnen um food waste?» Lachlustig antwortet dieser, der sie irgendwie an eine verstrichene Internetromanze erinnert: «Unserfood legt sich direkt auf die waist.» – Nach erreichter Wasserschluckmenge und beglichener Vollkostenrechnung verlässt sie den Verköstigungswagon und geht zurück zu ihrem Abteil.

Der Tag hat sich weiter dem Abend hin zugeneigt, das Schauspiel der eindrucksvollen Illuminierung des Firmaments ist vorüber. Die in Pastellfarben getünchten Dunstschwaden sind weg. Die Nacht bricht unaufhaltsam herein. Sara Dauer-Brenner, müde von dieser Fährfahrt, placiert ihren Hüftkranz auf dem Verzögerungsstreifen und schläft in der Bikiniklasse den Schlaf der Gerechten. Sie träumt von einem Übelbeleumundeten mit dem sie sich auf einem Maschinensaalkran durch den mozartstädtischen Behördenapparat wälzt, damit dessen Schwerbehindertenausweis dort verlängert und so die Binnengrenzfahndung erleichtert werden kann. Die phantasievollen Bilder bleiben wie Zuckerrückenfasern im Gedächtnis haften; sie sind durch nichts niederzukartätschen. Fast möchte sie heimsiech werden. Doch dann greift sie zur morgendlichen Gelenktoilette, bestehend aus frisch geschliffenen Genscheren, das lenkt ab. Sara Dauer-Brenner erlangt ihre street credibility zurück, als der Zug pünktlich am Zielbahnhof einfährt. In dessen Nähe nimmt sie sich ein Fremdenzimmer mit Zweinächteklausel. Der halitophobe Rezeptionist hält ihr die Bepreisung unter die Nase, inklusive Willkommensgruss und Einladung zum Projekt Lederhosenparty. Sie entschliesst sich fürs brexitting. Zuvor will sie am Missbrauchsgipfel teilnehmen und im Anschluss den Raritätenzoo besuchen; brennende Kathedralen gibt es hier ja nicht.

Unter all den wilden Tieren steigt Sara Dauer-Brenner klimajugendlich auf den nondualen Hochsitz, knipst den Zugschlussleuchteschalter an und ruft in das hellerleuchtete Himmelszelt: «Das Jahr geht zur Neige. Pfiete!»


 


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