Neujahrsbrief 2015

hoch hinauf

Alessja Schneidewind von Logonautik führt das Interview mit Reiner Messer. Der österreichische Bergsteiger und Hochgebirgs-Extremsportler bestieg schon viele Mehrtausender, sprang über manche Klippe, ging auf jede Tour stets ohne Sauerstoff und kehrte ohne Frostbeulen und mit allen Gliedmassen heil heim.

AlS: Herr Messer, wie kamen Sie zum Bergsteigen?
RM: Ich arbeitete in Schwaderloch als Detailhandelsverkäufer in einem Sportgeschäft und fand nicht aus der Versenkung der Sportartikel heraus. Da tröstete mich ein Freund mit den Worten: „Es geht aufwärts.“ Ich orientierte mich daran und stürmte los. Seither bin ich im Gebirge unterwegs. Mein Freund behielt Recht.

AlS: Was begeistert Sie an der Höhe?
RM: In der Rückhaltesektion schaue ich andächtig von unten zum Gipfel, schreite konzentriert durch den Wildwaldpfad, schlage mich durch Tiefdruckrinnen und gehe dann über Schneetafeln. Einmal oben, am Ziel angelangt, bin ich beflügelt und überblicke alles. Dieses Wechselspiel gefällt mir und ich habe über die Höhe gelernt: Manager fallen weicher. Sie erhalten die Volllohnzahlung bei einem Nullpensum. Ich schlage da schon härter auf, zudem bezahlt meine Versicherung keinen Schadenersatz bei entgangenen Besteigungsfreuden.

AlS: Einerseits bereiten Sie sich mental vor. Es führt aber nichts am körperlich anstrengenden Training vorbei. Wie gehen Sie vor?
RM: Ich bereite mich stets konsequent vor. Meine Lieblingsdisziplin ist das Langhantelschwungdrücken mit Kampfbürste. Ferner trainiere ich mit Vierfachfingerblock das Strecksehnenfach und stärke somit jeden Muskelbauch. Am effektivsten ertüchtige ich mich im lodengrünen Dress von Karl Lagerfeld.

AlS: Nicht immer ist Ihnen eine Besteigung gelungen. Wie gehen Sie mit Misserfolg um?
RM: Es verhält sich wie mit der Sprache: Das Binnen „I“ könnte auch das kleingebliebene Binnen „L“ sein.

AlS: Das müssen Sie mir erklären.
RM: Nun, es ist alles eine Sache der Perspektive. Was für den einen dergestalt ist, verhält sich für den anderen soundso. Man muss seinen Blickwinkel ändern können. Eine Tour nicht zu vollenden, ist noch kein Untergang. Ich nehme es locker. Wer einmal auf den Mount Everest gestiegen ist, sollte ‚ever rest’ verstanden haben. Bei Mehrfachbesteigungen stehen Drückjagdboni an – vorausgesetzt sie gelingen. Das ist natürlich verlockend.

AlS: Was bedeutet das?
RM: Nach Ertönen des Bratstartsignals steige ich auf Zeit rauf und runter, dies mehrmals die Woche. Wenn ich den abgemachten Zeitrahmen und die vereinbarte Häufigkeit der Besteigung einhalten kann, werden die drei kommenden Touren von den Sponsoren übernommen. – Aber um Erfolg wird viel Aufhebens gemacht. Er wird auch falsch verstanden. Scheitern hat keinen Platz mehr. Erlauben Sie mir hierzu einen kleinen Exkurs.

AlS: Ich bitte darum.
RM: Beim Erfolg gibt es eine Infektionskette. Sie beginnt mit Nacktselfie-Affären und mündet in Intim-porträts aus Bundes- oder Stadthäusern. Die Medien bauschen es als Skandal auf, landesweit spielt man Empörung. Dies bestärkt Strolche, die es mit Erfolg verwechseln. Das erinnert mich bloss an kleinbürgerliche Stiegenhausmitteilungen von Menschen mit spraysteifen Haaren. Ich plädiere für ein Grüsel-Konkordat!

AlS: Da Sie selber in den Schlagzeilen stehen, ist es wohl nicht angebracht, die Moralkeule zu schwingen. Ist das mit dem Matterhorn Ihr Ernst?
RM: Natürlich. Den obersten Teil des Schweizer Wahrzeichens habe ich annektiert; die Spitze gehört jetzt mir allein. Es ging ganz ohne Widerspruch, wie in anderen Teilen dieser Welt.

AlS: Wie kamen Sie dazu?
RM: Die Armutseinwanderung hat mich dazu inspiriert. Wem die Luft unten beim Plebs zu dick wird, dem gewähre ich oben Asyl; für einen entsprechenden Aufpreis – versteht sich.

AlS: Haben Sie genug Platz für den Menschenstrom?
RM: Ja, ich habe 10’000 Cornichonfächer mit Grosstrommelträgerhalterung eingerichtet, das sollte reichen. Als guter Österreicher habe ich auch einen Keller. Dort ist es zwar ziemlich dunkel, aber es gibt noch Platz.

AlS: Was sind Sie für ein Mensch?
RM: Ich bin eindeutig ein Wutbürger. Die Wut ist mein Motor.

AlS: Was ist ihr Lieblingsessen?
RM: Meeresscheidemuscheln, sonst finde ich die Welt braucht Wurst. Ich präzisiere: Conchita Wurst.

AlS: Nicht jeder Flieger erreicht sein Ziel. Ich denke an MH17. Wohin geht Ihre nächste Reise?
RM: Auch nicht jede Silbermöwenkopfkolonie überlebt den Winter. Ich habe einfach keine Angst und nehme mir das Motto von Freunden zu Herzen: trust the jump. Wer kein Vertrauen hat, ertrinkt beim nächsten Starkregen oder wird vom übernächsten Schneepflugfahrer überrollt. Aber um auf Ihre Frage zu antworten: Die Reise geht hoch hinauf.


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