Neujahrsbrief 2014

Ein Endjahreskurzkrimi

Es ist Freitag, später Vormittag. Grammateia Spitzfind steht stuhlbreit im Salon des Deutschherrenkarrees. Die Herta-Müller-Stiefel reichen ihr bis knapp über die sportlichen Waden; so viel Bein gibt der Rock preis. Nüchtern und zielbewusst befragt sie Hugo Hügli, den Wirt. Vom Schrecken über den Vorfall im Bann gehalten und blass vom Anblick – der Zutodegekommene ist noch gegenwärtig –, gibt Hügli bereitwillig aber wirr Auskunft. Er äussert Konspiratives, worauf die ermittelnde Kommissarin ungehalten reagiert: «Papperlapapp, im Pferdefleisch-Lasagne-Zeitalter können Sie mir das nicht weis machen! Die Schleifspuren …» – Ein kräftiger Mann mit breiten Cholesterinplatten in der Nackenspeckfalte platzt plötzlich mitten in die Befragung hinein und drängt sich als Overperformer auf. Er will der Beamtin unbedingt eine Konsumation aufschwätzen und als beflissener Kellner Eindruck schinden. «Hat die Kommisarin vielleicht einen Wunsch? Wir hätten ‘Taigabrause mit Birkensaft’ speziell im Angebot. Oder eventuell ein Süppchen mit Sanddornspiegel und dazu Salatveredler auf Grünzeug?» Spitzfind wendet sich blitzschnell zu ihm um, die Zornesfalte an ihrer Nasenwurzel zeigt eine tiefe Furche; sie wird ungern unterbrochen und belehrt den Störenfried messerscharf: «Ich stelle hier die Fragen!» Hügli, der sich nach und nach vom Schrecken erholt und wieder Fassung gewinnt, bedeutet seinem Angestellten, Arturo Geissbühler, dass er verschwinden solle. Dieser versteht den Wink und trottet schleppenden Schrittes davon. – Das Opfer, ein im Stadtteil bekannter Winkelbanker namens Frowin Ende liegt ausgestreckt auf dem Salonboden. Man wartet nun auf dessen Abtransport und den detaillierten Bericht vom Rechtsmediziner.

«Seit wann kommt Ende in Ihr Etablissement?» will die Kommissarin wissen. Hügli überlegt kurz und antwortet dann: «Seit Ende Monat. Gewöhnlich mietet er die Benediktionsloggia und speilt High-End-Tourist.» Sie ignoriert die seltsame Zeitangabe und fragt: «Was meinen Sie damit?» Hügli versucht es kurz zu erklären: «Tja, er bespasst Nettoeinwanderinnen nach einer präzisen Kontakthalteregelung. Ich habe allerdings nie einen Lauschangriff gemacht. Ich weiss das aus Endes eigenen Erzählungen», recht-fertigt sich Hügli. Spitzfind ermittelt weiter «Deutschen Sie mir das aus.» Hügli kommt diese Auf-forderung sichtlich ungelegen. «Es geht nicht um Germanen, sondern um Immigranten», drückst er sich gewählt aus. «So viel habe ich verstanden», sagt Spitzfind gelassen und hakt nach: «Was läuft in dieser Laube?» Nach einer Denkpause fügt Hügli bei: «Ich war ja nie dabei, Herrje, sie amüsieren sich halt.» Spitzfind lässt den Wirt stehen, ruft nach Geissbühler und befragt diesen ebenfalls. Er schleppt sich herbei, setzt sich und spricht in einem Flutkatalog von seiner variablen Entlohnung. «Danach habe ich nicht gefragt», hält die Kommissarin dem keuchenden Kellner freundlich aber klar entgegen. «Oder wollen Sie mir gerade beibringen, dass Sei Ende umgebracht haben, um sich an seiner Zahlungsmoral zu rächen?» Erstaunt guckt Geissbühler die Kriminalbeamtin an und schliesst daraus, dass sie Ende bereits als Hintermann des zwielichtigen Lokals entlarvt hat und entgegnet lasch: «Nein.» Spitzfind will keine Zeit verlieren und reagiert darum etwas bärbeissig: «Dann antworten Sie mir gefälligst: Wo waren Sie gestern Donnerstag zwischen 21 und 23 Uhr?» «Hier, im Lokal am Arbeiten. Warum?» «Ich stelle hier die Fragen!» entfährt es ihr. – «Kennen Sie den Film ‘Ali The Bee’?» fragt er nach einer Weile spontan. «Nein, aber ich kenne Arthur Schnitzlers Einakterzyklus ‘Komödie der Worte’, woraus ich gern zitiere: Aus Güte kann man sogar Verbrechen begehen.» Geissbühler quittiert das mit einem nüchternen: «Aha.» Spitz-find setzt sich durch: «Und jetzt belege sich Sie mit proaktiver Einspruchsverminderung.» Sie fährt danach zum Präsidium und legt dort die gesammelten Fakten auf ihrem Schreibtisch aus und ordnet sie.

Zwei Tage später liegt der rechtsmedizinische Bericht vor. Die Kommissarin liest: Tod durch Ersticken. Zeitpunkt zwischen 21 und 23 Uhr. Auffällig, die fliegenden Rippen sind beidseitig gebrochen, der Wolkenschädel weist ein Monokelhämatom inklusive Fraktur auf, was auf einen heftigen Aufprall zurückzuführen ist.
Mit diesem Hintergrundwissen fährt Spitzfind erneut zum locus delicti. Dort will sie beide Deutschherren nochmals befragen. Als sie am frühen Abend ankommt, trifft sie auf Geissbühler. «Ach, Frau Kommissarin», ruft dieser freudig aus, als sie den Salon betritt. «Ich weiss, Sie stellen hier die Fragen», sagt er anerkennend. «Korrekt. Dann wissen Sie vielleicht auch, ob Ende an seinem letzten Abend noch etwas zu sich genommen hat.» «Ja, er bestellte belegte Brote.» «Und?» bohrt Spitzfind forschend tiefer. Geissbühler holt gründlich Luft und beginnt: «Obwohl sie nicht auf seiner Ernährungspyramide stehen, habe ich sie ihm aufs Zimmer gebracht. Circa eine halbe Stunde später klingelt das interne Telefon. Ich denke bei mir, das ist eine erneute Bestellung und beantworte den Anruf. Ein aufgebrachtes Stimmengewirr hallt mir entgegen. Ich gehe sofort rauf. Dort deuten drei maskierte Damen abwechseln auf den eigenen sowie auf Endes Hals und huschen aus dem Zimmer. Er liegt am Boden, die Brote daneben. Ich fass ihn mit dem Heimlich-Griff um den Oberbauch und presse das offenbar Verschluckte aus ihm heraus.» Er macht eine kleine Erzählpause, fährt dann leiser fort: «Leider gelingt es mir nicht.» «Ist das der Film von dem Sie mir neulich erzählten ‘Ali The Bee’?», fragt Spitzfind. «Ja», entgegnet Geissbühler hilflos. Sie hat den Eindruck, er rede sich die Schatten weg. Kurz darauf erkundigt sie sich nach Hügli. «Ach Hugo», sagt er mit missbilligender Geste «ist hier nur der Nomadenmanager und Volumenbündler!» «Und wo finde ich ihn?» «Wahrscheinlich ist er in der Geschwürnische auf der Totholzinsel und pflegt serielle Monogamie», antwortet Geissbühler kryptisch. Spitzfind lässt sich davon nicht ablenken und geht durchs Lokal. Sie gelangt vom ersten in den zweiten, schliesslich in den dritten Stock. Dort steht sie vor einer Tür, die aussieht als berge der Raum dahinter die Buchhaltung mit Selbstbedienungszugang. Sie klopft und wartet auf eine Eintrittseinladung. Die Tür geht auf und Hügli steht vor ihr. Sofort platzt es aus ihm heraus: «Kommen Sie jetzt, um mich zu verhaften? Oder etwa nicht? Bestimmt, ich sehe Ihnen das an. Was liegt gegen mich vor? Ich sage nichts ohne meinen Anwalt.» «Halten Sie Ihre seelische Inkontinenz im Zaun. Ich stelle hier die Fragen!» bremst sie ihn aus. Hügli verstummt sofort, setzt sich an seinen Schreibtisch, wo er die Kostenschlüssel zur Hand nimmt, um die Mehrjahreslängsschnittsstudie erneut durchzusehen. Sptizfind beobachtet seine Handlungen aufmerksam, rasselt mit dem Ritzelpaket an der Stopfbüchse und richtet dann ihr Wort an ihn: «Wie stehen Sie zu Ende?» «Sie meinen wohl, wie ich zu ihm stand? Er lebt ja nicht mehr», präzisiert er und korrigiert damit die Kommissarin. Die Kriminalbeamtin berichtigt ihre Frage: «Wie standen Sie zu ihm?» «Von Anfang bis Ende war er mein Vorgesetzter. Er besass und betrieb dieses Lokal. Ich bin bloss ein kleiner Textilchronologe auf der Faulenzerheide.» «Wollen Sie mir nicht lieber vom Film ‘Ali The Bee’ berichten, wie das übrigens Geissbühler schon getan hat», schlägt sie vor und ergänzt: «Beweiserleichterung oder russische Amnestie liegt allmal drin.» «Was hat Ihnen Arturo verraten?» fragt Hügli beunruhigt. «Ach, nichts, was ich nicht schon wüsste», spannt sie ihn auf die Folter. Er krümmt sich auf seinem Bürosessel. Nach einer Weile gibt sie preis: «Geissbühler ist geständig.» «Was?» ruft Hügli ungläubig aus und ergänzt entsetzt: « Das ist nicht möglich. Arturo tut keiner Fliege was an.» «Ende war ja keine Fliege, sondern ein gerissener und durchtriebener Finanzmann», zeichnet Spitzfind das Todesopfer und dringt weiter fragend vor: «Wie erklären Sie sich die Scheifspuren von der Laube bis in den Salon, die gebrochenen Rippen und die Schädelfraktur?» Hügli schiesst auf wie ein Pfeil und berihtet, was an jenem Abend vorgefallen war: «Ende ging es schlecht, er hatte Atemnot. Arturo hat sich darum gekümmert, schleifte ihn nach unten und als er ihn nicht mehr halten konnte, liess er ihn eben fallen.» «Klar, einen Toten muss man nicht länger im Griff haben, nachdem man ihn umgelegt hat», bemerkt Spitzfind provokativ und verschweigt die wahre Todesursache. «Nein, Arturo hat ihn nicht umgelegt», meint darauf Hügli und ist felsenfest davon überzeugt. «Wie zum Teufel können Sie so sicher sein?» will die Kommissarin wissen. «Ende war ein geringer Mensch. Alle und alles worauf er es angesetzt hatte, musste er sofort haben», erhellt er das Wesen des ehemaligen Impressarios. «Und jetzt?» informiert er sich. «Sie hören von mir», gibt sich Spitzfind karg, lässt den Wirt stehen und kehrt ins Präsidium zurück. Dort sieht sie sich das Überwachungsvideo an. Es zeigt wie Geissbühler in das äusserst luxuriös ausgestattete Zimmer tritt, die belegten Brote hinstellt und wieder rausgeht. Wenig später kommt Ende, begleitet von drei Damen in Sturmhauben aus dem Bad. In der einen Hand hält er ein Soundingboard und in der anderen einen Räuberlöffel. Als er die belegten Brote sieht, lässt er alles fallen, stützt sich darauf und verschlingt sie gieprig. Kurz darauf hustet er heftig und gerät in Atemnot. Das Damentrio rennt unruhig auf und ab, telefoniert und flieht auf den Flur als Geissbühler eintritt und handelt, wie er es geschildert hat.

«Ein Unfall also», murmelt Spitzfind. Auf Endes Kehlkopfdeckel liegt ein Salamitrichter, der den Erstickungstod bewirkt hat. – Grossräumig entspannt, fast vergnügt verlässt die Kommissarin am winterkahlen Abend das Präsidium, rollt mit ihrem signalfarbigen Preisknüller-Mercedes aus der schmalen Haltebucht und fährt unter Scharfschaltung ins Neue Jahr. Finis coronat opus!


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